Kapitalismus in der Krise

Ein Beitrag zu Thomas Assheuers großartigem Artikel "Der große Ausverkauf".

"Endlich einer, der die Dinge scharfzüngig und auf dem Punkt beim Namen nennt" – das könnte man nach dem Lesen von Thomas Assheuers Kapitalismuskritik denken. Schlüssig stellt er in seinem brillianten Text dar, worin viele der derzeitigen gesellschaftlichen Probleme ihre Ursache finden: Im Versagen unseres Wirtschaftssystems, seine eigenen Versprechen einzulösen. Begeistert von seinem Artikel kam ich nicht umhin, einen Leserbrief zu verfassen, der in gekürzter Fassung in der ZEIT-Ausgabe vom vergangenen Donnerstag zu lesen ist. Weiter unten findet sich, nach den wichtigsten Auszügen aus dem Original-Artikel, ein etwas ausführlicherer Kommentar aus meiner eigenen Feder.

Der vollständige Artikel von Thomas Assheuer findet sich im Feuilleton der Wochenzeitung DIE ZEIT – Ausgabe Nr. 14 vom 27. März 2008 (S. 49-50).

"Es geht um die Legitimität der Wirtschaftsform insgesamt" – Eine Auswahl wichtiger Zitate aus Assheuers Artikel

  • Der Kapitalismus wirbt mit einer trügerischen Verheißung. Sie lautet: Folge meinem Gesetz, gehe ein Risiko ein, und du wirst reich belohnt.
  • Man muss kein Marxist sein, um zu sehen, dass es um die kapitalistische Verheißung derzeit nicht gut bestellt ist.
  • Tatsächlich wächst heute beides gleichzeitig, sowohl die Rendite wie auch die Unterschicht.
  • Bekanntlich beschweren sich konservative wie neuliberale Intellektuelle gern darüber, das linke Gift von Gleichheit und Gerechtigkeit lähme kreative Energien und werfe Deutschland im Standort-Roulette auf hintere Plätze zurück. Das war schon immer ein Gerücht, nun ist es eine Falschmeldung.
  • Eine wachsende Klasse von Selbstbereicherern kommt in den Genuss flächendeckender Steuersenkungen und bildet eine risikoarme Parallelgesellschaft mit eigenen Kindergärten, eigenen Schulen und eigenen Universitäten. »Ganz unten« dagegen, bei den Chancenlosen, klingelt der Vollzugsbeamte und schnüffelt an der Matratze, ob der Hartz-IV-Empfänger eine rechtlich anstößige Bedarfsgemeinschaft mit einer staatsfinanzierten Leidensgenossin unterhält.
  • Die säkulare Utopie des Marktes ("Wohlstand für alle") zerfällt ebenso wie die Schulbuch-Weisheit, Märkte seien per se effizient und gerecht.
  • Ist es nicht eine kapitalistische Pathologie, dass eine überhitzte Zugewinngesellschaft die Welt mit Reichtümern vollstopft, während im Schatten ihrer maßlosen Glitzerpaläste Kinder- und Altersarmut wachsen?
  • Es geht um die Legitimität der Wirtschaftsform insgesamt.
  • Was einmal "heiliger" Fortschritt hieß, das ist auf eine profane Innovation zusammengeschnurrt. Der nächste Rasierapparat hat vier statt drei Klingen, vermutlich mit Innenbeleuchtung inklusive Radio und Rauchmelder.
  • Nachdem die digitale Revolution durchgesetzt ist, nährt nur noch die Umwelttechnologie stille Hoffnungen, besteht ihr Fortschritt doch darin, die Folgen des Fortschritts abzumildern.
  • Wo früher die Schalmeienklänge der Fortschrittsreligion erklangen, da tönt heute der metallische Sound des Sachzwangs
  • Wie man weiß, besitzt der Kapitalismus ein großes Talent dafür, die sozialen und seelischen Nebenkosten seiner Selbstentfaltung abzuwälzen und unsichtbar zu machen. In Krisentagen ist stets jemand anderes schuld, zum Beispiel die Trägheit der Seelen oder die Selbstsucht des Managers, die saumselige Gesellschaft oder der faule Arbeitslose. Wahlweise auch die mimosenhafte Natur, die auf zarte Ausbeutungsversuche hysterisch mit einer Klimakatastrophe reagiert.
  • Doch wer sagt eigentlich, dass westliche Demokratien […] auf die Freiheit setzen, um dem autoritären Ausbeutungskapitalismus Paroli zu bieten? Es könnte auch ganz anders kommen. Politische Eliten und rechte Intellektuelle könnten aus der ökonomisch verursachten Legitimationskrise der Demokratie die Lehre ziehen, dass auch der liberale Kapitalismus endlich autoritärer werden und durch Demokratieverzicht neue ökonomische Triebkräfte entfesseln muss.

Es bleiben Fragen! – Der Vogelwart-Kommentar

Bei aller Begeisterung zu diesem großartigen Artikel bleiben zwei wichtige Fragen. Wieso mangelt es, erstens, der Mehrheit der publizistischen Beiträge an solch tiefgründig analytischem Scharfsinn? Studiert man die Politik- und Wirtschaftsseiten selbst der ZEIT regelmäßig, so finden sich doch erschreckend viele Texte, die dem "metallischen Sound des Sachzwangs" mit Pauken und Trompeten den Marsch blasen, wenn sie nicht gerade weitere kostbare Zeilen z.B. an vermeintliche Parteikrisen oder an Interviews mit dem Polit-Orakel Harald Schmidt verschwenden. Assheuer gehört auf die Titelseite, Schmidt ins Feuilleton!

Und warum lassen wird, zweitens, zugelassen, dass sich die Akteure in Politik und Wirtschaft erst gar nicht fragen (lassen) müssen, welche Lösungen sie angesichts der himmelsschreienden Missstände anbieten? Thomas Assheuer hat die Probleme erfrischend und unumwunden beim Namen genannt und weist den Weg zur Systemfrage. Zu hoffen ist, dass im aktuellen politischen Spektrum niemand diesen Weg mitgehen will. Doch auch und gerade dann: Grund genug, dass die Verantwortlichen bei allem lästigen Tagesgeschäft beginnen, weiter zu denken! Und zwar darüber, wie sich eben ohne weitere Fußtritte auf Freiheit und Gerechtigkeit, sondern vielmehr mit einer Stärkung derselben, der Kapitalismus weiterentwickeln lässt.

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