Europa voran, doch wo bleibt die Welt?

Die Lösung der finanziellen Probleme Europas ist wichtig. Doch unser Planet hat weitaus mehr Probleme, die dringend einer Lösung bedürfen. Politik, Medien und Bevölkerung müssen hierzu ihren Fokus dringend erweitern, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

Nach langer und emotionaler Debatte haben gestern der Bundestag wie der Bundesrat die umfassenden Gesetzeswerke zum europäischen Fiskalpakt und zum Europäischen Stabilitätsmechanismus verabschiedet. Damit geht Europa sicher einen weiteren, nicht unerheblichen Schritt in die richtige Richtung, wenngleich Zweifel bleiben, ob alles Notwendige entschieden wurde und alle  Entscheidungen notwendig waren. Dass freilich in der vorangegangenen Nacht diverse Brüsseler Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs Europas so manchen Paragraphen der anschließend durch die deutschen Parlamentskammern gebrachten Rechtswerke bereits wieder über den Haufen geworfen haben, sei hier nur als Fußnote erwähnt und soll hier nicht das Thema sein.

Was mich viel mehr besorgt, ist die seit Monaten, ja beinah Jahren stattfindende Einengung des Blickwinkels von Medien und Politik  auf ein einziges Thema: die fiskalischen Angelegenheiten der EU bzw. Eurolands. Es sind wichtige Dinge, die da besprochen und beschlossen werden – zugestanden! Ja, sie betreffen uns alle, insbesondere im Lichte der langfristigen Perspektive des "Wohin mit dem Haus Europa". Doch gibt es nicht noch anderes, was die Welt bewegt? Keine Woche vergeht, ohne dass Griechenland abermals gerettet, Spanien gestützt, Bankenpakete geschnürt, Rettungsfonds gefüllt und der Euro – mal wieder – stabilisiert wird. Die Kanzlerin eilt von Gipfel zu Gipfel, pendelt zwischen Berlin, Mexiko (G20-Gipfel), Brüssel, Rom und wieder Berlin und scheint in mehreren Fliegern gleichzeitig zu sitzen, um ihr Finanzbeschlusspensum bewältigen. Respekt gebührt ihr für dieses Pensum – wenn auch nicht unbedingt für den Inhalt dessen, was sie gestern so, heute so, morgen so, vertritt… Noch mehr Respekt hätte ihr gebührt, und damit wären wir bei den Dingen, die die Welt tatsächlich sonst noch bewegen, wenn sie sie sich auch woanders hätte blicken lassen, und wo man gerne insgesamt mehr einflussreiche Staatschefs gesehen hätte: In Rio de Janeiro.

Hier traf man sich jüngst zum Gipfel "Rio +20", einer Neuauflage des Erdgipfels von 1992, wo vor 20 Jahren mit großem Elan und ja, man kann sagen in enthusiastischer Aufbruchsstimmung, die Mächtigen der Welt zusammenkamen. Hier wurde etwa mit der Konvention über die Biologische Vielfalt die Absicht der Bekämpfung des Artenrückgangs und des Schutzes der natürlichen Lebensräume in ein internationales Vertragswerk gossen. Hier wurde darum gerungen, den Begriff der nachhaltigen Entwicklung mit Leben zu füllen, und damit um Versuch, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir dem wirtschaftlichen Wachstum nicht weiterhin die Zukunft kommender Generationen opfern dürfen.

Und zwanzig Jahre später? Der Raubbau an den Ökosystemen – beispielsweise an den tropischen Wäldern oder den Fischbeständen der Weltmeere, geht uneingeschränkt voran; das Klimasystem ist längst aus dem Gleichgewicht und man geht bei der globalen Erwärmung von den schlimmsten Szenarien für das Ende des Jahrhunderts aus; Öl und Kohle, organische Stoffe, die in Jahrmillionen entstanden sind und als fossile Energieträger den Weg unter die Erdoberfläche fanden, werden in nach wie vor steigenden Raten in Form von Treibhausgasen die Atmosphäre verbracht; von nachhaltiger Ressourcennutzung keine Spur. Diese Liste ließe sich schier endlos fortsetzen. Nachhaltigkeit, ein Konzept, für das man die globale, langfristige Perspektive braucht, ist aus der Mode, das Bewusstsein für die Vernichtung der biologischen Vielfalt, der Lebensräume und somit letztlich unserer eigenen natürlichen Lebensgrundlagen, schon gar. Dass Angela Merkel sich nicht nach Brasilien bemühte (ebensowenig wie übrigens Barack Obama oder viele andere Staatenlenker), zeigt, wo die sie die Prioritäten setz. Die Aufmerksamkeiten liegen woanders. Doch nicht nur die der Politik und der von ihnen gelenkten Geldströme (eine treffende Darstellung ebenjenes Phänomens ist übrigens Jürgen Tomicek gelungen.)

Nein, auch die Medien und mutmaßlich ebenso die breite Bevölkerungsöffentlichkeit haben ihren Interessensfokus klar anderswo. Die Kriseninflation Europas und die Ausschläge "der Märkte" deckt alles andere zu – übrigens nicht nur die globale Umwelt- und Gesellschaftspolitik, sondern auch viele immens wichtige innenpolitische Themen (Bildung, fortschreitende soziale Ungerechtigkeit, Steuer- und Gesundheitssystem). Dabei liegen für so manche, selbst globale und daher höchst komplexe und schier unlösbare Probleme so manche Lösungsmöglichkeiten auf der Hand. Achim Steiner, Nachfolger von Klaus Töpfer als Leiter des Umweltprogramms der Vereinten Nationen, stellte dies im Gespräch mit der ZEIT neulich treffend dar, aus dem ich hier zitiere: "Heute subventionieren wir zum Beispiel die Produktion von Öl und Kohle noch immer mit weltweit fast 500 Milliarden Euro pro Jahr. […] Oder denken Sie an die Fischerei: Obwohl die Fischbestände zusammenbrechen, […] fördern wir den Raubbau mit fast 22 Milliarden Euro für unsere Fischereiflotten", so Steiner. Mindestens die Problematik der fehlenden finanziellen Mittel für die Förderung nachhaltiger Entwicklung, die Reduktion der Treibhausgasemissionen oder für einen echten, wirksamen Schutz der Artenvielfalt könnte mit einer Umleitung dieser Gelder, die momentan noch in diesen vollkommen fehlgeleiteten Subventionstöpfen stecken, angehen.

In zehn Jahren, vielleicht sogar früher, so mutmaße ich hier einmal ganz frei von der Leber weg, wird kein Mensch mehr von der Fiskalproblematik einer der reichsten Regionen der Erde – Europas – sprechen. Stattdessen werden die selben Staaten, die sich heute (zweifelsohne teils zurecht – das habe ich oben dargestellt) im "Klein-Klein" der fiskalischen Brandmauern verhakeln, fragen, warum sie sich nicht rechtzeitig auch mehr mit dem "Groß-Groß" der Zukunft der Biosphäre beschäftigt haben – als noch Zeit dafür war. Denn die Zeit, diese Prioritätenerweiterung von der Politik einzufordern, verstreicht langsam. Dies zu verhindern liegt auch, und zwar ganz prominent, in der Verantwortung des Souveräns sowie der von ihm konsumierten Medien. Beide sollten ihre Verantwortung wahrnehmen.

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1 Kommentar

  1. Ich sehe das größte Problem darin, dass wir uns als Homo sapiens von unseren nächsten Verwandten nur minimal unterscheiden. Viele der in der Evolution entstandenen “Motoren” unseres Denekns und Handelns sind hier immer noch sehrdem der Menschenaffen ähnlich. Ein Hauptphänomen ist, dass auch in komplexen sozialen Gruppen das eigene Wohl die größte treibende Kraft ist. Das bedeutet, dass die Ereignisse, die einen unmittelbar bevor- oder benachteilen das Wesen unseres Handelns bestimmt. Da sich die angesprochene Bedrohung NOCH nicht unmittelbar auf die meisten Menschen und ihre Existenz auswirkt, ist der Drang diese Bedrohung ernst zu nehmen und entsprechend zu handeln gering.
    Dazu kommt erschwerend hinzu, dass sich dieses Phänomen sehr deutlich auch in den politischen Systemen wieder findet: Der Politiker, der sich die unmittelbaren Themen, die vor allem seine Wähler betrifft auf die Fahne schreibt, wird gewählt. Da ist für großzügiges Denken und Handeln, dessen Auswirkungen erst nach einer abgelaufenen Legislaturperiode erkennbar wird kein Platz. Er wird demgegenüber benachteiligt, der kurzfristig die Bedürfnisse seiner Wählerschaft berücksichtigt. Nur so lässt sich erklären, warum ein Saatschef, der z.B. Urlaubs-Flüge seiner Wähler aus ökologischen Gründen erst einmal einschränken will mit Sicherheit nicht mehr gewählt wird. Leider glaube ich, dass ernsthaftes Handeln in die richtige Richtung erst dann spürbar wird, wenn die Handelnden selbst von Sturmflut, Ressourcenarmut oder extremen Klimaschwankungen mit Gefahr für Haus und Gut die Handelnden selbst betrifft.

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