Es strahlt der Schöpfung großer Klang

“Huch!? Was soll denn das?”, wird sich nun die eine oder der andere aus der geschätzten Leserschaft denken. “Da schicken wir den Vogelwart zum Studieren, um Biologe und ein Schüler Darwins zu werden; da promoviert er in der weiten Welt vor sich hin und über des Klimas Wandel und dessen Auswirkungen auf die Verteilung der Tiere in Raum und Zeit; da ist er Doktorand am Zentrum für Makroökologie und Evolution; und obendrein feiert der Vater aller modernen Biologie, in deren vielfältigem Terrain ja ganz gemäß Theodosius Dobzhanskys Wort nichts Sinn macht ohne eine Betrachtung im Lichte der Evolution, dieser Tage seinen 200. Geburtstag – und was lesen wir da im Blog? Einen Lobgesang auf die Schöpfung!?” Nein, nicht doch. Wer denkt, ich folge dem kreationistischen Irrglauben oder falle den nicht minder irrenden Apologeten des Intelligent Design anheim, der irrt. Die Evolution ist eine Tatsache, und wer dies abstreitet, der hat, bei allem Respekt, den Unterschied zwischen Glaube und wissenschaftlicher Erkenntnis (was zu vereinbaren durchaus gelingen mag!) nicht verstanden. Aber darum soll es hier ja gar nicht gehen. Vielmehr sollen diese Zeilen eine andere Schöpfung besingen, und zwar eine musikalische. Denn im Jahr 1809, in dem Charles Darwin, der spätere Schöpfer einer revolutionären Theorie, im englischen Lande das Licht der Welt erblickte, schied in Wien ein Schöpfer großartiger Musik dahin. Es war Joseph Haydn, der nach reichem musikalischem Schaffen, welches, ganz wie Darwins Werk für die Naturwissenschaften, nachhaltige Wirkung auf nachfolgende Musikergenerationen entfalten sollte, unter anderem im Bereich der Sinfonik, was sich in den viersätzigen Werken von Beethoven über Brahms bis Bruckner widerspiegelt, im Alter von 77 Jahren verstarb. Nun begab es sich, dass hier in Madrid neben all den in Funk, Fernsehen und Feuilleton aufzufindenden Beiträgen zu Darwins Vermächtnis das Sinfonische Orchester und der Chor des RTVE (Radiotelevisión Española) zu Ehren des österreichischen Komponisten – ganz nach dem Motto “Lobet den Herren, alle Haydn”  ein Konzert veranstalteten. Auf dem Programm stand Haydns berühmtes Oratorium “Die Schöpfung”, und da zu allem Überfluss der Konzertsaal lediglich drei Gehminuten von meiner Wohnung beheimatet ist, wohnte ich doch ganz spontan mal jener Aufführung bei. Und was soll ich sagen: Es war ein grandioses Erlebnis – Hellmuth Rillings Dirigat führte die Ensembles und Solisten zu einer Glanzleistung, die ich im Nachhinein nicht werde missen mögen.

Vorweggeschickt sei, was ich soeben kurzerhand nachlas, dass nämlich “Die Schöpfung” neben Haydns “Jahreszeiten” die Krönung seines Vokalwerks ist und, so wie seine Sinfonik spätere Generationen beeinflusste, den Boom des Oratorien- und Chorschaffens im 19. Jahrhundert begründete. Das mag so sein oder nicht, Tatsache ist, dass man dies nach dem bewussten Konsum des Werks ganz und gar nachvollziehen kann. Doch abgesehen von seinem musikalisch-theoretischen Wirkungsgrad ist Haydns Werk schlicht und einfach ein Prachtstück. Die Schöpfung ist so reich an Ausdruck, an theologischer Tiefgründigkeit, an feingliedriger musikalischer wie verbaler Poesie, an virtuosem Klangspiel, dass sie einfach vollendetes Vergnügen bereitet. Das beginnt sogleich bei der Vorstellung des Chaos durch das Orchester, wonach der Erzengel Raphael (Bass) die Finsternis beschreibt, doch als dann Raphael und der Chor Gott das Licht werden lassen, leuchtet der Klangstrahl so hell und klar, dass der Uriel (Tenor), der zweite im Erzengelterzett, sich nur melodiös freuen kann über das Schwinden der gräuliche Schatten. Nun will ich mich hier mitnichten durch das gesamte Libretto dichten, sondern es mit einigen Highlights bewenden lassen – nicht ohne jedoch den Ausführenden die notwenige Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Da seien zuvorderst die Solisten erwähnt, die eine außerordentlich gelungene Besetzung waren. Insbesondere Nathan Berg, der Raphaels (und im dritten Teil Adams) Bass verkörperte, füllte seine Rolle glänzend aus – zumal wenn man berücksichtigt, dass der im Gegensatz zu seinen Kollegen die Aussprachehürden der Verse als Nichtmuttersprachler zu bewältigen hatte, was ihm übrigens nicht besser hätte gelingen können. Kurioserweise war dann aber gerade das Wort “unaussprechlich”, welches doch tatsächlich in einem Adam-Rezitativ im dritten Teil vorkommt, zwar wohl nicht unaussprechlich, aber doch des Kanadiers Herkunft nicht in Gänze verbergend von demselben ausgesprochen. Überhaupt darf ich an dieser Stelle die wirklich hervorragende Ausspracheleistung auch des Chores lobend hervorheben! Den deutschen Chor möcht’ ich seh’n, der ein spanisches Zigeunerlied so auf den Punkt bringt wie die Sängerinnen und Sänger des RTVE-Coro Haydns Schöpfungsgeschichte – Respekt, meine Damen und Herren! Doch zurück zur Solistenleistung – Nathan Berg wusste wirklich, was er da sang und aussprach. Als er im Terzett (Nr. 27) des zweiten Teils berichtet, dass der Herr den Odem wegnehme, versagte dem mitfühlenden Zuhörer beinah der Atem, in solch präsentem Pianissimo wusste Berg jene Passage ersterben zu lassen. Und als er zuvor (ganz eingedenk Darwins) die zoologische Abteilung präsentiert, geht er in der grollenden Würde des Löwen so auf wie in der geschmeidigen List des Tigers, in der stolzen Pferdestärke so wie im rosaroten, doch etwas tumben, Idyll der abgeteilten Wiederkäuerherde. – Mein Biologengewissen kann nun allerdings doch nicht anders, als diese Passage des Rezitativs Nr. 21 hier hineinzufügen, so sehr lässt sie das Zoologenherz (und vielleicht auch das des gemeinen Lesers) höher schlagen. Da berichtet der Engel Raphael:

Gleich öffnet sich der Erde Schoß
und sie gebiert auf Gottes Wort
Geschöpfe jeder Art
in vollem Wuchs und ohne Zahl.
Vor Freude brüllend steht der Löwe da.
Hier schießt der gelenkige Tyger empor.
Das zack’ge Haupt erhebt der schnelle Hirsch.
Mit fliegender Mähne springt und wieh’rt
voll Muth und Kraft das edle Ross.
Auf grünen Matten weidet schon
das Rind, in Herden abgetheilt.
Die Triften deckt, als wie gesät,
das wollenreiche, sanfte Schaf.
Wie Staub verbreitet sich
in Schwarm und Wirbel
das Heer der Insekten.
In langen Zügen
kriecht am Boden das Gewürm.

Herrlich! Gerade die letzten Zeilen sind auch eine kompositorische Ohrenweide – die langgedehnten, tiefen Bogenstriche der Streicher lassen ganze Heerscharen von Regenwürmern, Raupen, Blindwühlen und – wenn wir auf den Meeresgrund hinabtauchen – Seegurken und Echiuriden um die Ohren kriechen. (Ob das Gewürm und die langen Züge auch was mit Herrn Mehdorn und den Machenschaften im Vorstand der Deutschen Bahn AG zu tun hat, sei an dieser Stelle dahingestellt).

An manchen Stellen hätte man sich Herrn Berg durchaus auch als E-Bassisten einer coolen Rock- oder Bluesband vorstellen können, so wenig konnte er sein insgeheimes Pulsieren mit den coolen Haydnrhythmen verbergen. Der einzige Wehmutstropfen an seiner Rolle war, dass ihm für den Konzertraum, der arg trocken und auch athmosphärisch für das Werk nicht gerade der geeignetste war, die Fülle eines Bryn Terfel oder (gerade in der Tiefe) eines Kurt Moll fehlte, doch soll dies keinesfalls als eine  Schmälerung seiner Leistung begriffen werden.

Mit demselben Problem hatte auch Julia Sophie Wagner zu kämpfen, deren wunderschöner Sopran an den Stellen, an denen das Orchester aufzuspielen, aber sie dennoch zu begleiten hatte, leider eher unterging. Die Fülle so mancher Chor-Primadonna fehlte ihr – klanglich wie (gottlob!) auch optisch – und ihre 29jährige Jugend trug sicher auch ein wenig dazu bei, dass es ihr für diesen Raum und dieses Werk an mancher Stelle an Kraft mangelte. Doch war sie an vielen anderen Stellen eine wirklich hervorragende Besetzung: Wenn auch ihr Adlerstolz (Arie Nr. 15) aus den genannten Gründen ein wenig blass verflog, so verhalf sie der Taubenliebe (“und Liebe girrt das zarte Taubenpaar”) so zartfühlend und liebreizend zum Erklingen, dass das Glitzern des Sternenstaubs auf ihren engelsgleichen Wangen spürbar wurde. Und die Verse, die im dritten Teil jedem Chauvinisten ein frohlockendes Grinsen ins Gesicht malen (“O du, für den ich ward! / Mein Schirm, mein Schild, mein All! / Dein Will’ ist mein Gesetz.”), und das gesamte Duett sang sie einfach so engelsgleich, so zauberhaft und einfach zum Verlieben, dass es mir ein Rührungstränchen in den Augenwinkel setzte. Dass bei den ersten Menschen auch die Erotik nicht zu kurz kam, wusste übrigens offenbar auch schon Haydn, denn wer bei Adams Vers “Wie labend ist der runden Früchte Saft”, der dem Sänger sichtlich Freude bereitete, nur an Obst denkt, dem mag seine Unbedarftheit zum Segen gereichen.

Der dritte im Engelbunde der Solisten – Lothar Odinius – soll freilich nicht unerwähnt bleiben. Er war vom stimmlichen Volumen und von der Klangentfaltung her der einzige, dem die miese Akustik des Saals sozusagen wurscht war und der seinen Tenor einfach unbefangen in die Weite strömen ließ. Wunderbar hell und klar gab er den lyrischen Passagen des Erzengels Uriel die nötige Wärme (“Mit leisem Gang und sanftem Schimmer / schleicht der Mond die stille Nacht hindurch”, Nr. 12), herrlich ließ er im gleichen Rezitativ mit dem nötigen Pathos den Glanz der Sonne erstrahlen, und prachtvoll vollbrachte er den Bericht zur Menschwerdung in seiner Arie im zweiten Teil, wenn er auch den “König der Natur” ein kleinwenig zu scheppernd herauspresste. Darüberhinaus war das Anschleifen der hohen, lauten Töne, das an wenigen Stellen eine fein-feierliche Nuance darstellte, an den meisten der Stellen ein kleinwenig überflüssig.

Ausdrücklich müssen die (leider von Haydn nicht häufiger verwendete) Terzette und damit der Zusammensang der drei Solisten gewürdigt werden. Die Präzision der Absprachen, die unglaubliche Ausgewogenheit der Klangfärbung, die dynamische Synchronität, ja einfach die gesamte vollendete Harmonie der drei Stimmen waren ein solcher Hochgenuss, dass in diesem Punkte meines Erachtens selbst die mir bekannten berühmten Aufnahmen unter Bernstein von 1990 (Solisten: Bleger, Moser, Moll) und Harnoncourt 1986 (Gruberova, Protschka, Holl) in den Schatten gestellt werden.

Dass Hellmuth Rilling an dieser Leistung nicht ganz unbeteiligt war, sondern im Gegenteil ihr Hauptanteilseigner, ist sicher keine gewagte These. Rilling, der mittlerweile 75jährige Gründer und Leiter der Gächinger Kantorei und der Internationalen Bachakademie Stuttgart, bestach nicht nur durch sein bei aller Schlichtheit hochpräzises Dirigat, sondern vor allem durch das Gesamtkunstwerk der Interpretation. Er sorgte sowohl zwischen Chor und Orchester als auch innerhalb der Ensembles für eine perfekte Ausgewogenheit (dass die Tenöre bei manchem Fortissimo-Einsatz etwas zu stählern dröhnend daherkamen, liegt zweifelsohne eher kaum am Dirigat – diese Bemerkung sei mir als nicht unerfahrener Chorsänger und -tenor mit einem Augenzwinkern gestattet), trieb den Klangkörper genau da zu energischer Rasanz oder zu ruheatmendem Pianissimo, wo die Musik das jeweilige verlangte – erstere etwa im Schluss des Schlusschors des ersten Teils “Die Himmel erzählen die Ehre Gottes”, letztere etwa in bereits erwähntem “Du wendest ab dein Angesicht, / da bebet alles und erstarrt. / Du nimmst den Odem weg, / in Staub zerfallen sie.” (im Terzett Nr. 27). Übertriebenes Pathos und Effekthascherei liegen Rilling nicht – das macht sympathisch und Sinn gerade bei Haydns Schöpfung. Vielmehr lässt er aus den Augenwinkeln die richtige Stimmung in den Klangkörper blitzen, und zeigt unbefangen die Freude an und mit der Musik – so soll es sein.

Die Leistung des Chores besprach ich schon in Ansätzen, zur perfekten Deklamation kommt eine fantastische Klangamplitude, die gnadenlos insbesondere in den oberen Bereichen ausgekostet wurde. Doch auch ein grandioses Pianissimo wussten die Sängerinnen und Sänger anzubieten. Das Fortissimo, wenngleich von herrlich vitaler Strahlkraft, war aber doch manchmal zu viel des Guten – man hätte sich gerade bei den fulminanten Schlusschören der drei Teile (“Die Himmel erzählen die Ehre Gottes”, “Vollendet ist das große Werk”, “Singt dem Herren, alle Stimmen”) am Ende je nochmals eine Steigerung gewünscht, die aber angesichts des bereits vorher verschossenen Pulvers nur zu erahnen war.

Ein Wort zum Orchester: Insgesamt solide. In den Streichern sehr gute Präzision, traumhaftes Miteinander. Enttäuschend das Holz – im Gegensatz zu Gesangssolisten und Streichern spielte das Holzgebläse ausdruckslos aneinander vorbei und nutzte die exponierten Passagen nicht zur positiven Eigendarstellung. Dass die Oboe an der einen oder anderen Stelle dicht unter der verlangten Intonation entlangnäselte, macht die Sache nicht besser. Die Blechbläser taten sich durch solides Spiel, jedoch auch durch Unauffälligkeit bzw. Zurückhaltung hervor, was insofern schade ist, als den grandiosen Tutti-Stellen somit eine Spur Glanz fehlte – da hätten Trompeten und Posaunen durchaus ein wenig mehr Gas geben können.

Doch die wenigen Einzeldefizite haben, das sei abermals unterstrichen, keinesfalls einen Abbruch getan an der Gesamtleistung aller Mitwirkenden. Hellmuth Rilling hat gemeinsam mit Chor, Orchester und Solisten eine Schöpfung erschaffen, die berührt und begeistert hat. Und so will ich mit einem Verweis auf einen Satz aus einem meiner vormaligen Blogbeiträge schließen – auch und gerade als (und da schließt sich der Kreis) von Darwins Evolutionslehre überzeugter und doch gläubiger Naturwissenschaftler. Da schrieb ich also in meinem Bericht über ein ebenfalls grandioses Musikerlebnis: “Ich wage zu mutmaßen, dass Menschen, denen der Glaube an Gott eher fern liegt, hier eine Ahnung eröffnet wird, wie Gott und sein Himmelreich erfahrbar werden können.” Was ich da für den 5. Satz in Mahlers 2. Symphonie formulierte, gilt, mindestes für mich, gleichfalls für Haydns Schöpfung. Und so rufe ich – im Gegensatz zu Hellmuth Rilling ganz und gar nicht frei von Pathos – allen Leserinnen und Lesern, die bis hierher durchgehalten haben, freimütig zu: Genießt die Schöpfung!

 

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