Dänischer Sommer

Wenn einem der berüchtigte dänische Sommer (von dem die Legende geht, manch einer habe ihn verpasst, weil er kurz auf dem Klo war) so wenig übel mitspielt wie in den letzten Tagen, kann man das ja durchaus auch mal schriftlich festhalten. Und so sieht denn die Lage aus momentan:

Das Department ist halb bis dreiviertel leer, da Dänemark im Juli insgesamt im Prinzip geschlossen hat. Zum Mittagessen nimmt man seine Butterbrote mitsamt gulerøder (Mohrrüben, die zu jedem dänischen Lunch pflichtgemäß dazugehören) auf den Linden-beschatteten Holzbänken im Innenhof des Unigebäudes ein. Die Gespräche mit den gottlob doch noch Gesellschaft leistenden zurück- und daheimgebliebenen Kollegen drehen sich um die Wahrscheinlichkeit, mit welcher der heutige Tag der letzte Sommertag sein könnte, um langfristige Berufs-, mittelfristige Konferenz- und kurzfristige Strandbesuchs- und Grill-Ziele ("ist im Frederiksberg Have das Grillen gestattet, und wenn nein, könnte man sich im Notfall mit seiner ausländischen Identität rausreden?"), sowie um die Chance, für den neuerlich erworbenen Siemens-Kaffee-Vollautomaten eine Softeis-spendende Erweiterungsapparatur zu erwerben und montieren. Letzteres scheitert freilich am mangelnden Angebot seitens des Herstellers, doch die Hoffnung stirbt zuletzt, dass man die Softeis-Extension als open-access-plugin bald online herunterlanden kann – vielleicht auch als package in R, denn da gibt’s ja bekanntlich alles.

Die laut dröhnende, quasi durch das Büro hindurchfahrende Hauptverkehrsstraße, deren Geräuschintensität dadurch, dass die Hitze bei geschlossenem Fenster stehend und somit unerträglich wird, lässt die Arbeit nach der Mittagspause mithin nicht unbedingt konzentrierter werden. Daher ist die Freude darüber, dass die während der Nichtferienzeit zahllosen Besprechungen, Seminare und Diskussionsrunden, die einen doch sonst so sehr vom eigentlichen wissenschaftlichen Tun abhalten, durch möglichst ebenso zahllose Kaffee-, Kuchen- oder Eiscremepausen ersetzt werden, groß.

Mittwochs ab 16:00 Uhr fiebert man dann, nachdem man das für heute selbstgesteckte Pensum abermals durch diverse Facebook-Aktualisierungen und wichtige Informationsrecherchen aus dem Sommerloch bei Spiegel Online weiter in Richtung der definitiven Nichtbewältigung gerückt hat, dem wöchentlichen Fußball-Event entgegen, also werden die Shorts gewechselt, die Stutzen gestrafft und die Stollen angelegt, um für etwa zwei Stunden auf knochenhartem Rasen durch die pralle Sonne zu rennen. Was aber Spaß macht, solange man sich ordentlich eingeschmiert hat, denn sonst gerät der üblicherweise eher käsige Teint leicht zum Hummer-Abbild.

Und das wirklich Gute am Kopenhagener Sommer ist, dass nach dem zweistündigen Aufheizen auf dem Bolzplatz das frische, klare Wasser der Ostsee in zehnminütiger Radelentfernung die unbändige Versuchung einer Abkühlung bietet. Gesagt, getan, man springt (natürlich gemeinsam mit etwa 2000 weiteren Gleichgesinnten, die gleichfalls die etwa 1000 Quadratmeter Sandfleck am Svanemøllener Strand belegen) in die frischen Fluten, die zwar im Gegensatz zur wellig-brausenden Nordsee doch eher einer Badewanne gleichen, aber wir wollen uns ja nicht beschweren. Beim kühlen Bade lauscht man den Ausführungen des Kollegen, seineszeichens promovierter Biogeochemiker und Spezialist für marines Phytoplankton, die kurz die Zusammensetzung der hier vorliegenden (bzw. –schwebenden) Planktonfemeinschaft anhand der grünlichen Wassertrübung darstellen. Was will man mehr – im dänischen Sommer!?

Förderungsfehler

Warum die Bundesregierung mit ihrem Stipendienprogramm auf dem falschen Dampfer ist

Der Bundesrat hat heute einem der Prestige-Objekte der Koalition grünes Licht gegeben: Nach anfänglichen gegenteiligen Signalen aus der Länderkammer haben sich die schwarzen Landesfürsten doch dazu breitschlagen lassen, dem nationalen Stipendienprogramm zuzustimmen.

Dass dies kurz vor einer Änderung der Mehrheitsverhältnisse des Rates (die schwarz-gelbe Regierung aus NRW hat schon längst keine Parlamentsmehrheit mehr hinter sich, gibt aber trotzdem ihre sechs Stimmen für das umstrittene Projekt) geschieht, und nur nachdem die zuständige Ministerin mit reichlich Bundesgeld ihre Argumente unterfütterte, mag ein gewisses G’schmäckle darstellen, welches jedoch nicht vom grundsätzlichen Fehler ablenken soll: Das Stipendienprogramm ist nicht nur sozialpolitisch, sondern langfristig auch wirtschaftspolitisch falsch.

 

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So nicht!

Die Regierung tritt mit ihrem Sparpaket jegliches Prinzip von Gerechtigkeit und Ausgewogenheit mit Füßen.

Viel Häme könnte man dieser Tage ausschütten über den Zustand von Merkels Rumpelstilzchenverein, der seine Gurkentruppen aussendet, um die bayrischen Wildsäue im Zaum zu halten – alles Zitate aus koalitionseigener Produktion wohlgemerkt! Doch reiße ich mich angesichts der Ergebnisse der Kabinettssparklausur vom vergangenen Wochenende zur Abwechslung mal zusammen und versuche an einem ganz sachlichen Kommentar. Wobei diese Sachlichkeit keineswegs Gelassenheit impliziert, denn gelassen kann man angesichts der angedachten himmelsschreienden Ungerechtigkeiten wohl kaum bleiben. Ganz und gar nicht gelassen kommentiert etwa Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung die Pläne der Koalition.

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“Was ist denn hier los?”…

…mag man sich angesichts aller möglichen aktuellen Ereigniss derzeit fragen. Schaut man in diesen Blog, ist die Frage schnell beantwortet, denn außer gähnender Leere war hier nichts los in den letzten Monaten (doch dazu später noch ein wenig mehr). Ein Blick ins deutsche öffentliche Leben macht jeden Beobachter so fernab der Heimat er auch sein mag, staunen!

Eine gewisse Lena singt ganz Europa in Grund und Boden, ein deutsches Bundesland wird unverhofft von einer freudigen Rücktrittserklärung ereilt, ein deutsches Staatsoberhaupt spielt beleidigte Leberwurst und hat keine Lust mehr auf die ihm aufgetragene Verantwortung. Nebenbei spannt das Parlament einen Milliardenrettungsschirm nach dem anderen über südeuropäische Europartner, die Regierung tanzt Sirtaki ums Haushaltsloch, und den Liberalen gerät ihr Hohelied der Steuersenkung zum Leidmotiv. "Was will man mehr!?" sagt sich der Blogger, und schreibt endlich mal wieder einen Beitrag…

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Zum Wahnsinnigwerden

Nun sitz’ ich hier und kann nicht anders – als doch was zu bloggen. Da will man als Dissertationsendphasen-geplagter Doktorand am Sonntagabend einen Manuskriptentwurf voranbringen, und was passiert? Für eine Stunde politischer Unterhaltung schaltet man das Erste Deutsche Fernsehen ein, wo Anne Will über die Bildung diskutieren lässt. Und da muss man sich eine Bildungsministerin anhören, die jeden aufmerksamen und am Bildungsthema interessierten Zuhörer an den Rand des Platzens bringen. Annette Schavan ist – angesichts ihrer Machtlosigkeit insbesondere nach der letzten Föderalismusreform – bereits qua Amt der Grüßaugust der Bundesregierung. Doch dass sie diesen Titel mit der Sinnentleertheit ihrer Phrasen nachhaltig untermauert, ist trotz ihrer Parteizugehörigkeit schwerlich zu begreifen. Drei Beispielen ihrer Worthülsen folgen jeweils Kommentare meinerseits, die mir hoffentlich eine geruhsame Nacht ermöglichen.

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Deutschland hat gewählt

Und zwar anders als ich es mir erwünscht habe, das gebe ich ganz offen zu. Union und FDP haben durch eine klare Mehrheit der Mandate im Parlament einen klaren Regierungsauftrag. Linke und Grüne haben prozentual gewonnen, die SPD hingegen ist eingekracht. Elf Prozent Verlust, das schlechteste Ergebnis in der Nachkriegsgeschichte, ein Drittel ihrer Abgeordneten verliert die Sozialdemokratische Partei. Insbesondere ans Lager der Nichtwähler hat sie SPD verloren – offenbar hat sie mit ihren Ideen und Konzepten nicht überzeugen können. Das ist das Tragische. Ohne Wählerschelte betreiben zu wollen, denn die Entscheidung des Souveräns sollte jeder Demokrat respektieren, darf es aber doch erheblich wundern, dass die Partei, die mit dem klarsten Deutschlandplan wahlgekämpft hat, abgestraft wurde. Diejenigen hingegen, die gesellschafts- und wirtschaftspolitisch ohne jedes Konzept und ansonsten mit aberwitzigen Steuersenkungsversprechen durch die Lande zogen, haben gewonnen. Das Schizophrene dabei: Selbst die, die CDU, CSU und FDP gewählt haben, glauben diesen nicht hinsichtlich ihrer Entlastungsankündigungen. Sei’s drum. Ich wünsche nun der absehbar schwarz-gelben Regierung eine glückliche Hand.

Der SPD hingegen sei mehr gewünscht. Erstens muss sie nun – in Ruhe und mit Umsicht – die Gelegenheit zur personellen Erneuerung nutzen. Frank Walter Steinmeier sollte Fraktionsvorsitzender und damit Oppositionsführer werden, denn er vermittelt die notwendige Balance aus ökonomischer, sozialer und ökologischer Vernunft glaubwürdig. Fehler der Vergangenheit müssen allerdings auch von ihm eingestanden und ausgeglichen werden, was im übrigen nicht heißt, im Grundsatz richtige Reformen wieder zurückzukurbeln. An der Parteispitze muss es zweifelsohne Veränderungen geben, doch rate ich auch hier zu einem Ausgleich aus vernünftiger Kontinuität und jugendlichem Engagement.

Zweitens muss sich die SPD neuen Koalitionsoptionen in Richtung Linke öffnen, denn sonst verbaut sie sich dauerhaft ihre Machtperspektive. Voraussetzung dafür ist freilich, dass auch die Linke in vielen Fragen zunächst in der Realität ankommen muss, sei es außenpolitisch, wirtschafts- oder finanzpolitisch.

Drittens aber sei der SPD gewünscht, dass sie sich besinnt auf ihre Aufgabe als große, stolze, linke Volkspartei: Politik zu machen für alle Schichten der Gesellschaft, vom Arbeitslosen bis zur Unternehmerin, von der Alleinerziehenden bis zum Hochschulprofessor, vom Arbeiter bis zur Studentin. Dabei muss sie sich vom roten Faden der Gerechtigkeit leiten lassen. Und hierbei muss sie es schaffen, Gerechtigkeit lokal wie global, für die Gegenwart wie für die Zukunft zu denken und entsprechend zu handeln. Nur das kann sie langristig wieder zu neuer Stärke führen. Die SPD muss die Kraft der Integration von ökonomischer Vernunft und sozialer Balance bleiben, ganz im Sinne ihrer Grundsätze Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Und wo sie es nicht mehr ist, muss sie es wieder werden. Denn die SPD wird gebraucht – für Deutschlands Zukunft.

Wo gewählt wird, verliert Schwarz-Gelb

Die heutigen Landtagswahlen haben spannende Ergebnisse zu Tage gefördert. Sowohl für die Koalitionslandschaft im föderalen Flickenteppich wie auch als Test der politischen Stimmung in Deutschland. Zu letzterem Aspekt erlaube ich mir hier einige Bemerkungen.

Fasst man numerisch die Ergebnisse aus dem Saarland, aus Thüringen und Sachsen zusammen, kommt man in der Tat zu interessanten Zahlen. Betrachtet man die Summe der prozentualen Veränderungen seit den letzten Wahlen in den drei Ländern, so hat die CDU 25,6 Prozent verloren, die SPD 1,7 Prozent, während die Grünen gut 3, die FDP 12,1 und die Linke 17,3 gewonnen haben. Ein Blick auf die Madatsverluste, verrät, dass die CDU 20 Sitze verloren hat, die SPD einen, während die Grünen, die Linke und die FDP 9, 8 und 16 Sitze dazugewonnen haben. Und einen letzten Punkt füge ich hinzu, der meiner Ansicht nach für den Bundestrend der spannendste ist: Wo die Wahlbeteiligung stieg (z.B. mit 12,1 Prozent im Saarland oder mit 2,4 Prozent in Thüringen), hat ein schwarz-gelbes Bündnis keine Mehrheit, wo dagegen die Wahlbeteiligung zurückgeht und im Tal verharrt (51 Prozent in Sachsen, was ein Minus von 5,9 Prozent bedeutet), gewähren quasi die Nichtwähler CDU und FDP den Regierungsauftrag. Mit anderen Worten: Wo mehr Menschen wählen gehen, kommen linke Mehrheiten zustande, was den Schluss naheliegt, dass, je mehr Menschen befragt werden, sich um so breitere Mehrheiten gegen konservativ-liberale Regierungen finden. Ein Ruhmesblatt für ebendieses Lager sieht anders aus, Rückenwind für eine Wahl, bei der üblicherweise ca. 80 Prozent der Wähler zur Urne pilgern, auch.

Freilich darf man die Signalwirkungen dieser Regionalwahlen für die Bundesebene nicht überbewerten, sind doch die Abstrafung von Dieter Althaus in Thüringen und das Erstarken der Linkspartei im Saarland durch die Popularität Oskar Lafontaines recht lokale Phänomene, die sich nur begrenzt auf die Bundestagswahl am 27. September übertragen lassen. Außerdem hat die SPD gleichfalls keinen Grund zum Jubel, denn stärkste Partei ist sie in keinem der Länder geworden, vielmehr liegt sie im Osten deutlich auf Rang drei nach der Linken. Dass an der Saar und in Thüringen nur schwerlich Koalitionen ohne die Sozialdemokraten zustande kommen werden, ist immerhin ein Trost.

Doch wenn sich nun der Wahlkampf belebt, sich mehr und mehr Leute für die Themen, um die es tatsächlich geht, zu interessieren beginnen, wird es umso spannender. Ebenjene Leute werden recht schnell erkennen, dass das Verharren der Kanzlerin mitsamt ihrer Partei in der Präsidialaura ungefährer Konzeptlosigkeit und die irrealen Steuersenkungsversprechen der (Neo-)Liberalen nicht die richtigen Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit geben können. Je mehr es sich um Inhalte wie Arbeit der Zukunft, soziale Gerechtigkeit, Bildung und Klimawandel dreht, desto klarer wird, dass FDP und CDU mit ihrem Motto „Steuern runter und sonst keine Ahnung“ bzw. „Weiter so, womit ist egal, und vielleicht noch Steuern runter“ nicht werden punkten können. Je mehr es um die Sache gehen wird, desto mehr wird Frau Merkel ins schwitzen kommen. Sei’s drum – es sei ihr gegönnt.

Fehlende Optionen: Der Inspirationsmangel der Parteien

Viel könnte man schreiben zum beginnenden Wahlkampf, aus dem sich die Kanzlerin vermutlich aus Gründen der Risikoscheu, gepaart mit Konzeptlosigkeit, in präsidialer Aura vornehm zurückhält. Der Kanzlerkandidat hingegen versucht, für ambitionierte Ziele und Konzepte Aufmerksamkeit zu erhaschen, und erfährt dabei, dass die Journallie in jeder Diskussion die Kernfragen (Arbeit von morgen, Klima, Bildung, Generationengerechtigkeit) außen vorlässt, um sich stattdessen in eine Viermillionenzahl festzubeißen.
Leider fehlt mir momentan die Zeit, um meine Standpunkte ausführlich darzustellen. Deshalb greife ich heute, um überhaupt etwas beizutragen, auf Sekundärquellen zurück, und zwar auf den Politikwissenschaftler Franz Walter, der in einem inspirierenden Artikel in der Online-Ausgabe des Spiegel die Blockaden bespricht, die sich die Parteien selbst aufzuerleben bereit sind. Und das obwohl es sich, so meine These, um Nebenkriegsschauplätze handelt – nämlich um das "Wer mit wem und wie" – die Koalitionsfrage (von mir an anderer Stelle übrigens bereits gleichfalls besprochen). Walter begründet zutreffend, dass sich durch die Farbexklusionen der diversen Akteure und durch den definitiven Ausschluss von Ampel- bis Jamaikakoalitionen die Politik "jeglicher Inspiration beraubt". Bitte lesen – es lohnt sich!

Franz Walter: "Deutsche Parteien fürchten das Experiment" – Spiegel Online, 23.08.2009

Was ein Unfug

Der jüngste Spiegel-Kommentar zur SPD-Krise gibt (a) Anlass zur Heiterkeit und (b) Vernunft und Geschichtsbewusstsein des Autors der Lächerlichkeit preis.

Die SPD lasse sich wie ein blödes Schaf von Angela Merkel zur Schlachtbank führen, so Christoph Schwennicke in seinem jüngsten Kommentar zum Zustand der Sozialdemokraten im bisher nicht so recht beginnenden Wahlkampf. Sie seien auf Hartz-IV-Niveau angekommen, die Kanzlerin führe den Kandidaten Steinmeier erbarmungslos vor, und Peer Steinbrück sei der größte Versager der deutschen Politik. Die einzige Hoffnung der Genossen, so Schwennicke, sei ein Eklat in der Abstimmung über die Wahlrechtsreform gewesen, in der die SPD aus der Koalitionsdisziplin hätte ausbrechen sollen, um mit Grünen und Linken für eine – zugegeben vom Verfassungsgericht angemahnte – Gesetzesänderung zu stimmen. Ob der sonst außerordentlich fähige Spiegel-Reporter sich und seinem Blatt (bzw. dessen Online-Version) mit diesem Beitrag einen Gefallen getan hat, darf mehr als bezweifelt werden, lassen sich doch in Windeseile drei bestechend einfache Gegenargumente aufschreiben.

Erstens: Was wäre gewesen, wenn die SPD in der letzten Sitzungswoche die Koalition wegen der Wahlrechtsreform hätte platzen lassen? Sie hätte mehr Schaden davongetragen als Nutzen. Freilich, sie hätte Aufmerksamkeit bekommen, und hätte sogar in ihrem Sinne entschieden, wird doch das derzeit noch geltende Recht (welches aus Karlsruhe als verfassungswidrig bewertet wurde) vermutlich vor allem der Union zusätzliche Mandate in die Fraktion spülen. Der Schaden freilich liegt auf der Hand: CDU und CSU hätten keine Sekunde gezögert, die SPD als Vertragsbrecher aus Eigennutz hinzustellen. Und einem aus der Mottenkiste gezogenen rot-dunkelrot-grünen Schreckgespenst wäre Tor und Tür geöffnet gewesen. Nein, die SPD hat richtig und besonnen gehandelt – wenn auch das Wahlrecht dringend reformiert gehört. Doch besonders bei solch entscheidenden Fragen wie der Wahlgesetzgebung sollte nichts übers Knie gebrochen werden, sondern will gut Ding Weile haben.

Zweitens: Peer Steinbrück stellt die gesammte Unionsministerriege um Längen in den Schatten. Der Finanzminister hat die Banken-, und Wirtschaftskrise glänzend gemanaged – nicht auszudenken, wenn das Insolvenzbarönchen Guttenberg das hätte leisten müssen. Den Schuldenberg, der nun vor dem Finanzminister liegt, hat darüber hinaus nun wirklich nicht er selbst zu verantworten – bei normaler Konjunktur wäre Steinbrück in der Tat 2011 als Vater des ersten ausgeglichenen Haushalts seit Menschengedenken gerühmt worden. Und schließlich nennt er auch unangenehme Dinge beim Namen (zugegeben teils zu Lasten des eigenen Lagers, siehe Rentendebatte), weiß mit brillantem  Fachverstand zu beeindrucken und stellt mit messerscharfer wie unterhaltsamer Rhetorik selbst zu kompliziertesten Fragen beinah jeden anderen Parlamentsredner (seine CDU-Ministerkollegen zumal) in den Schatten. Wie Herr Schwennicke also zu seinem Schluss kommt, Steinbrück sei der Regierung Versager vor dem Herrn, mag mir und vielen anderen beim besten Willen nicht einleuchten.

Drittens: Der Blick auf die vergangene Bundestagswahl sollte die schreibende Zunft mehr Vorsicht lehren, voreilig derartigen Schlachtbank-Prognosen das Wort zu reden. Ein kurzer numerischer Überblick auf die Entwicklung der prozentualen Verhältnisse von CDU/CSU und SPD vor bzw. bei der Wahl 2005 mag ein wenig Erleuchtung bringen:

  • 15. Juli – Union 43%, SPD 27%
  • 16. August – Union 42%, SPD 29%
  • 7. September – Union 42%, SPD 32%
  • 18. September (Wahlergebnis) – Union 35,2%, SPD 34,2%.

Mit anderen Worten: 2005 lagen die Schwarzen selbst zehn Tage vor der Wahl mit schier uneinholbaren 10% vor den Roten, zwei Monate zuvor waren es gar 16%. Entscheidend ist aber, was hinten rauskommt, und das war ein kümmerliches Prozent Abstand am Abend der Wahl. Noch anders: Wer mehr als zwei Monate vor der Wahl dieselbe für entschieden erklärt, hat (a) aus der Vergangenheit nichts gelernt, unterschätzt (b) die Dynamik eines spät einsetzenden Wahlkampfs und nimmt (c) den Souverän, welcher auch in der Wahlkabine noch in der Lage ist, alle Umfragen irren zu lassen, fahrlässig wenig ernst.

Mein Fazit: Die SPD hat noch Zeit, das Blatt zu wenden. Es wird noch spannend, dessen bin ich, um mit der Wortwahl des Kanzlerkandidaten zu schließen, fest überzeugt.